Neurobiologische Grundlagen erfolgreicher Deeskalation durch Unterstützungs- und Bindungsangebote
Unterstützung, Bindung und Beziehung spielen eine zentrale Rolle als entscheidende Faktoren für erfolgreiche Deeskalation und positive Verhaltensänderung – besonders im schulischen Kontext. Die neurobiologische Forschung zeigt, dass Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nach sozialer Verbindung haben, das Joachim Bauer sogar als das wichtigste menschliche Bedürfnis überhaupt beschreibt.
Die praktische Erfahrung in der Arbeit mit verhaltensauffälligen und eskalierenden Kindern und Jugendlichen bestätigt diese neurobiologische Perspektive. Christoph Göttl hat anhand konkreter Praxisbeispiele demonstriert, wie ein kombiniertes Vorgehen aus Unterstützung und Grenzmarkierung wirksame Deeskalation ermöglicht.
Neurobiologische Wirkmechanismen im Deeskalationsprozess
Bei eskalierendem Verhalten wird zunächst die Orientierungsreaktion ausgelöst – etwa durch Klatschen oder das Nennen des Namens. In dieser kurzen Phase (etwa 100 Millisekunden) ist die betroffene Person empfänglich für Sicherheitssignale. Entscheidend ist dann, durch Körpersprache und erste Worte Unterstützung zu signalisieren. Dies vermittelt: „Hier ist jemand, der helfen kann.“
Statt die Beziehung abzubrechen, erweisen sich Bindungsangebote als weitaus effektiver. Wenn eine Lehrkraft beispielsweise sagt: „Ich gehe jetzt in mein Büro und warte dort auf dich“, signalisiert dies Präsenz und Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Neurobiologisch aktiviert dies das Bindungssystem und reduziert das Gefühl der Bedrohtheit.
Verhaltensunabhängige Unterstützung in der Praxis
Ein besonders wirkungsvolles Element sind verhaltensunabhängige Unterstützungsangebote. Göttl berichtet von einem Fall aus der Steiermark, wo ein Jugendlicher nach Morddrohungen aus der Schule genommen wurde. Ein Lehrer bot diesem Schüler an, sich jeden Tag um 13 Uhr am Grazer Hauptplatz zu treffen – unabhängig davon, ob der Jugendliche erschien oder nicht. Dieses einseitige Angebot kombinierte notwendigen Schutz durch räumliche Trennung mit einem verlässlichen Bindungsangebot.
Ähnlich verhält es sich im klinischen Kontext: Bei einem jungen Patienten, der in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen werden musste, zeigte sich der Wert kontinuierlicher Bindungsangebote. Die täglichen Besuche des Arztes nach der Einweisung signalisierten klar: „Dies ist nicht das Ende unserer Beziehung.“ Sie demonstrierten, dass Grenzmarkierung und Schutzmaßnahmen mit Bindungsangeboten einhergehen können und sollten.
Settingänderung statt Abbruch
Ein zentrales Element in der Arbeit mit herausfordernden Kindern und Jugendlichen ist der Umgang mit Situationen, in denen das bestehende Setting nicht mehr tragfähig erscheint. Sowohl Göttl als auch Baumann betonen hier die entscheidende Unterscheidung zwischen einer Settingänderung und einem Beziehungsabbruch.
Bei einer notwendigen Veränderung des Settings – etwa wenn ein Schüler temporär vom Unterricht suspendiert werden muss oder eine stationäre Unterbringung erforderlich wird – ist es wesentlich, dass diese Maßnahme nicht als Abbruch der Beziehung verstanden oder kommuniziert wird. Die räumliche oder strukturelle Trennung kann als Schutzmaßnahme notwendig sein, sollte aber immer mit einem verlässlichen Beziehungsangebot verbunden werden.
In Göttls Beispiel des Jugendlichen aus der Steiermark wurde genau diese Balance umgesetzt: Die Unterbringung im Schlupfhaus stellte die nötige Settingänderung dar, während das tägliche Treffen am Grazer Hauptplatz das kontinuierliche Beziehungsangebot sicherte. Diese Kombination vermittelt die zentrale Botschaft: „Die Situation erfordert eine Veränderung des Rahmens – aber unsere Beziehung bleibt bestehen.“
Diese Unterscheidung ist besonders im schulischen Kontext bedeutsam, wo Settingänderungen oft als disziplinarische Maßnahmen verstanden werden. Die neurobiologisch fundierte Perspektive verdeutlicht jedoch, dass gerade in Krisensituationen das Bindungsangebot nicht abreißen darf – ein Aspekt, auf den sowohl Göttl in seinen praktischen Ansätzen als auch Baumann in seinen pädagogischen Konzepten nachdrücklich hinweisen.
Für Schulbegleitungen bedeutet dies konkret: Auch wenn ein Kind vorübergehend in einem anderen Raum betreut oder zeitweise vom Unterricht ausgeschlossen werden muss, sollte stets deutlich kommuniziert werden, dass dies keine Bestrafung oder ein Beziehungsabbruch ist, sondern eine Schutzmaßnahme, die mit einem verlässlichen Wiedereinstiegsangebot verbunden ist.
Wertschätzung als Grundlage für Veränderung
Die Wertschätzung für Fähigkeiten und Bemühungen der Kinder und Jugendlichen bildet eine wichtige Basis für Verhaltensänderungen. Dies hilft, dem Gefühl des Versagens entgegenzuwirken und schafft eine positive Grundlage für weitere Interaktionen.
Warum dieser Ansatz gerade bei schwierigem Verhalten wichtig ist
Hinter eskalierendem und gewalttätigem Verhalten steht häufig eine Notsituation – oft ausgelöst durch unbefriedigte Bedürfnisse nach Sicherheit, Bindung und Anerkennung. Der neurobiologische Hintergrund hilft zu verstehen, warum Mobbing und aggressive Verhaltensweisen als „aggressive Bindungsangebote“ interpretiert werden können: Als verzweifelte Versuche, Kontakt herzustellen und eine Antwort auf die Frage zu bekommen: „Gibt es jemanden, der mich trotzdem unterstützt und mir Grenzen setzt?“
Die Forschung zeigt, dass soziale Ausgrenzung im Gehirn ähnliche Areale aktiviert wie körperlicher Schmerz. Echte Unterstützungsangebote adressieren diesen „sozialen Schmerz“ direkt und können aggressive Verhaltensweisen überflüssig machen.
Unterstützung und Grenzmarkierung statt reiner Strafe
Im schulischen Alltag bedeutet dies, dass wirksame Interventionen sowohl Unterstützung als auch klare Grenzmarkierung beinhalten sollten. Während reine Strafen wie Handyentzug oder Hausarrest die eigentlichen Probleme oft verstärken, bietet die Kombination aus Unterstützung und Grenzmarkierung einen wirksamen Rahmen für positive Entwicklung.
Studien bestätigen: Ein Erwachsener, der sich wirklich kümmert („one caring adult“), kann den entscheidenden Unterschied in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen machen. Für Schulbegleitungen bedeutet dies, neben klaren Grenzen auch verlässliche Beziehungsangebote zu schaffen – ein Ansatz, der durch neurobiologische Erkenntnisse und praktische Erfahrungen gleichermaßen gestützt wird.
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