Stimming und Masking bei Autismus
Stimming: Eine Form der Selbstregulation
Stimming (abgeleitet von „self-stimulatory behavior“) bezeichnet selbststimulierende, repetitive Bewegungen oder Verhaltensweisen, die von autistischen Menschen zur Selbstregulation eingesetzt werden. Diese natürlichen Verhaltensweisen erfüllen wichtige Funktionen für das Wohlbefinden und die emotionale Regulation.
Formen des Stimmings
Stimming kann in vielfältigen Formen auftreten:
- Motorische Stimming-Formen:
- Händeflattern („hand flapping“)
- Schaukeln mit dem Oberkörper
- Wippen mit den Beinen
- Drehen um die eigene Achse
- Finger- oder Handmanierismen
- Tippen oder Klopfen mit Fingern oder Gegenständen
- Zähneknirschen oder Kieferbewegungen
- Vokale/auditive Stimming-Formen:
- Summen oder Singen bestimmter Melodien
- Wiederholung von Worten oder Phrasen (Echolalie)
- Klicken mit der Zunge
- Bestimmte Laute oder Geräusche erzeugen
- Wiederholtes Abspielen von Audioinhalten
- Visuelle Stimming-Formen:
- Beobachten von sich bewegenden oder wirbelnden Objekten
- Blicken durch die Finger oder in bestimmte Lichtquellen
- Betrachtung bestimmter Muster oder visueller Reize
- Peripheres Sehen nutzen
- Taktile Stimming-Formen:
- Bestimmte Texturen berühren oder reiben
- Druckausübung auf Körperteile
- Nutzung von „Fidget-Toys“ oder Stressballons
- Spielen mit Haaren oder Schmuck
- Spüren bestimmter Temperaturen
- Vestibulär-propriozeptive Stimming-Formen:
- Schaukeln oder Wippen
- Springen oder Hüpfen
- Auf Zehenspitzen laufen
- Druckausübung durch enge Kleidung oder Gewichtsdecken
Funktionen des Stimmings
Stimming erfüllt zahlreiche wichtige Funktionen:
- Regulation sensorischer Wahrnehmung:
- Ausgleich von Über- oder Unterstimulation
- Filterung von Umgebungsreizen
- Schaffung vorhersehbarer sensorischer Eindrücke
- Emotionale Regulation:
- Beruhigung bei Stress oder Angst
- Abbau von Anspannung
- Ausdruck von Freude und Begeisterung
- Bewältigung von Unsicherheit oder Überforderung
- Kognitive Unterstützung:
- Förderung der Konzentration
- Unterstützung beim Denken oder Problemlösen
- Verarbeitung von Informationen
- Kommunikation:
- Nonverbaler Ausdruck von Gefühlen und Bedürfnissen
- Signalisierung von Überlastung oder Wohlbefinden
Gesellschaftliche Wahrnehmung von Stimming
Traditionell wurde Stimming in medizinischen und therapeutischen Kontexten oft pathologisiert und als „zu reduzierende Verhaltensauffälligkeit“ betrachtet. Dieses Verständnis hat sich jedoch grundlegend gewandelt:
- Traditionelle Sichtweise:
- Stimming als „störendes Verhalten“
- Fokus auf Unterdrückung oder „Normalisierung“
- Bewertung nach sozialer Akzeptanz
- Moderne neurodiversitätsaffirmative Sichtweise:
- Stimming als notwendiger Regulationsmechanismus
- Fokus auf Verständnis und Akzeptanz
- Anerkennung der funktionalen Bedeutung
Unterstützung von gesundem Stimming
Ein unterstützender Umgang mit Stimming kann beinhalten:
- Akzeptanz und Verständnis für die Notwendigkeit des Stimmings
- Bereitstellung sozial akzeptabler Stimming-Alternativen (z.B. Fidget-Toys)
- Schaffung von „Stimming-freundlichen“ Räumen und Zeiten
- Unterscheidung zwischen hilfreichem Stimming und selbstverletzendem Verhalten
- Sensibilisierung des Umfelds für die Bedeutung von Stimming
Masking: Die verborgene Anstrengung
Was ist Masking?
Masking (oder „Camouflaging“) bezeichnet den Prozess, bei dem autistische Menschen ihre natürlichen autistischen Verhaltensweisen unterdrücken und neurotypische Verhaltensweisen nachahmen, um sozial besser akzeptiert zu werden und „normaler“ zu erscheinen.
Formen des Maskings
Masking kann verschiedene Verhaltensweisen umfassen:
- Soziale Masking-Strategien:
- Einstudieren von „angemessenen“ Gesichtsausdrücken
- Nachahmen von Körpersprache und Gestik anderer
- Vermeiden von autistischen Bewegungsmustern wie Stimming
- Auswendiglernen von Small-Talk-Phrasen und -Themen
- Bewusstes Einhalten von Blickkontakt (oft nach festen Regeln)
- Kopieren von Sprechweisen, Humor oder Interessen anderer
- Emotionales Masking:
- Unterdrücken authentischer emotionaler Reaktionen
- Vortäuschen von Interesse an Themen, die nicht wirklich interessieren
- Verstecken von Überlastung oder Erschöpfung
- Lächeln oder Lachen in sozialen Situationen, auch wenn es nicht authentisch ist
- Sensorisches Masking:
- Ignorieren von Schmerzen oder Unbehagen durch sensorische Überempfindlichkeit
- Ertragen unangenehmer Umgebungen ohne sichtbare Reaktion
- Unterdrücken des Bedürfnisses nach sensorischer Regulation
- Kognitive Masking-Strategien:
- Intensive Vorbereitung auf soziale Situationen
- Verwendung von „Skripten“ für Gespräche
- Ständige Selbstüberwachung und -korrektur
- Analysieren sozialer Situationen durch explizite Regeln statt Intuition
Der Preis des Maskings
Masking ist mit erheblichen Kosten für autistische Menschen verbunden:
- Gesundheitliche Auswirkungen:
- Chronische Erschöpfung (Autistic Burnout)
- Erhöhtes Risiko für Depression und Angststörungen
- Stress-bedingte körperliche Symptome
- Identitätskrisen und vermindertes Selbstwertgefühl
- Soziale Konsequenzen:
- Authentische Beziehungen werden erschwert
- Eigene Bedürfnisse werden nicht kommuniziert
- Grenzen werden überschritten
- Verstärkung des Gefühls, „anders“ oder „falsch“ zu sein
- Diagnostische Verzögerungen:
- Erfolgreiches Masking kann Diagnosen verzögern oder verhindern
- Besonders bei Frauen und Mädchen häufig (Gender Gap in der Diagnostik)
- Führt oft zu Fehldiagnosen (Depression, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen)
- Langzeitfolgen:
- Verlust der Verbindung zu eigenen Bedürfnissen und Grenzen
- Autistischer Burnout durch chronische Überlastung
- „Autistic Regression“ – zeitweiser Verlust von Fähigkeiten
Gesellschaftliche Dimensionen des Maskings
Masking spiegelt breitere gesellschaftliche Probleme wider:
- Gesellschaftlicher Druck zur „Normalität“
- Mangelnde Akzeptanz autistischer Ausdrucksformen
- Privilegierung neurotypischer Kommunikationsweisen
- Medizinisches Modell des „Reparierens“ statt Akzeptanz
Das „doppelte Empathie-Problem“
Das Konzept des „doppelten Empathie-Problems“ (Milton, 2012) beschreibt, wie sowohl autistische als auch nicht-autistische Menschen Schwierigkeiten haben, die jeweils andere neurologische Disposition zu verstehen:
- Neurotypische Menschen verstehen autistische Kommunikation und Ausdrucksweise oft nicht
- Autistische Menschen verstehen neurotypische soziale Codes und implizite Kommunikation oft nicht
- Masking ist der einseitige Versuch autistischer Menschen, diese Kluft zu überbrücken
Wege zu mehr Authentizität
Unterstützung für autistische Menschen beim Reduzieren von Masking kann umfassen:
- Schaffung autismusfreundlicher Umgebungen
- Akzeptanz autistischer Kommunikations- und Ausdrucksformen
- Ermutigung zur Selbstakzeptanz und authentischem Ausdruck
- Sensibilisierung des Umfelds für die Kosten des Maskings
- Entwicklung von Selbstfürsorgestrategien
Die Verbindung zwischen Stimming und Masking
Der Unterdrückungskreislauf
Stimming und Masking stehen in einem engen Zusammenhang:
- Unterdrücktes Stimming (als Teil des Maskings) erhöht den Stress
- Erhöhter Stress steigert das Bedürfnis nach Stimming
- Die Unterdrückung dieses verstärkten Bedürfnisses führt zu noch mehr Stress
- Ein Teufelskreis entsteht, der oft in Overload, Meltdown oder Shutdown mündet
Ausbalancierung von Authentizität und Anpassung
Für viele autistische Menschen geht es nicht um ein „Entweder-Oder“, sondern um eine bewusste Balance:
- Selbstgewählte, situative Anpassung vs. erzwungenes, permanentes Masking
- Entwicklung sozial akzeptierterer Stimming-Formen für bestimmte Umgebungen
- Bewusste Entscheidung, wann Masking notwendig ist und wann authentisches Verhalten möglich ist
- Schaffung von „sicheren Räumen“ für authentisches Verhalten und Erholung vom Masking
Praktische Empfehlungen
Für autistische Personen
Umgang mit Stimming:
- Erkenne dein Stimming als wichtigen Teil deiner Selbstregulation an
- Experimentiere mit verschiedenen Stimming-Formen und finde heraus, welche für dich am hilfreichsten sind
- Entwickle ein Repertoire an unterschiedlich auffälligen Stimming-Formen für verschiedene Situationen
- Informiere vertraute Personen über die Bedeutung deines Stimmings
- Nutze bewusst Stimming zur Prävention von Überlastung
Reduzierung von Masking:
- Identifiziere Situationen, in denen du am stärksten maskierst
- Experimentiere mit schrittweiser Reduktion des Maskings in sicheren Umgebungen
- Verbinde dich mit anderen autistischen Menschen, die ähnliche Erfahrungen teilen
- Entwickle Strategien zur Erholung nach Situationen mit intensivem Masking
- Kommuniziere deine Bedürfnisse klar, wenn möglich
Für Fachkräfte und Bezugspersonen
Unterstützung bei Stimming:
- Respektiere Stimming als notwendige Selbstregulationsstrategie
- Interveniere nur bei selbstverletzendem Stimming
- Biete alternative Stimming-Möglichkeiten an, wenn nötig
- Unterstütze die Entwicklung sozial akzeptablerer Stimming-Formen, ohne das ursprüngliche Stimming zu pathologisieren
- Kläre das Umfeld über die Bedeutung von Stimming auf
Reduktion der Notwendigkeit von Masking:
- Schaffe eine akzeptierende, autismusfreundliche Umgebung
- Anerkenne und wertschätze autistische Kommunikations- und Interaktionsformen
- Beachte Anzeichen von Erschöpfung durch Masking
- Unterstütze die Entwicklung von Selbstfürsorgestrategien
- Biete explizites soziales Lernen an, ohne Konformität zu erzwingen
Fazit
Stimming und Masking repräsentieren zwei Seiten der autistischen Erfahrung – einerseits den natürlichen Selbstausdruck und die Selbstregulation, andererseits die gesellschaftlich erzwungene Anpassung.
Ein neurodiversitätsaffirmativer Ansatz fördert:
- Akzeptanz von Stimming als wichtiger Regulationsmechanismus
- Kritisches Verständnis für die negativen Auswirkungen von Masking
- Entwicklung von Umgebungen, die autistische Menschen nicht zum Maskieren zwingen
- Unterstützung autistischer Menschen dabei, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und zu kommunizieren
In einer wirklich inklusiven Gesellschaft würde die Last der Anpassung nicht einseitig auf autistischen Menschen liegen, sondern gemeinsam getragen werden – durch gegenseitiges Verständnis, Akzeptanz der neurologischen Vielfalt und Schaffung von Umgebungen, die für alle zugänglich sind.
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