Hyperaktivität bei ADHS und alternative Lernumgebungen
Erscheinungsformen der Hyperaktivität:
- Übermäßige motorische Aktivität (Zappeln, Herumrutschen, Klopfen)
- Schwierigkeiten, ruhig sitzen oder stehen zu bleiben
- Innere Unruhe und Rastlosigkeit
- Übermäßiges Reden und ständiger „Motor“
- Ständiges „auf Achse sein“
- Schwierigkeiten bei ruhigen Aktivitäten
- Berührungsdrang (anfassen von Gegenständen und Menschen)
Entwicklungsverlauf:
- Kindergartenalter : Ausgeprägte motorische Unruhe, häufiger Aktivitätswechsel
- Grundschulalter : Herumrutschen auf dem Stuhl, mit Gegenständen spielen, Schwierigkeiten beim Stillsitzen
- Jugendalter : Innere Unruhe tritt in den Vordergrund, „getriebenes“ Gefühl
- Erwachsenenalter : Hyperaktivität nimmt oft ab, wird durch subjektives Gefühl innerer Rastlosigkeit ersetzt
Neurobiologische Grundlagen:
- Verminderte Aktivität in Hirnregionen, die für Hemmung/Kontrolle zuständig sind
- Ungleichgewicht im Dopamin- und Noradrenalin-Stoffwechsel
- Erhöhte Grundaktivierung des Nervensystems
- Beeinträchtigte Fähigkeit zur Selbstregulation von Aktivität und Erregung
Hyperaktivität im Kontext von schnellem und langsamem Denken
Kahnemann: System 1 und System 2
- System 1 (schnelles Denken):
- Automatisch, intuitiv, emotional, unbewusst
- Bei ADHS oft dominant durch impulsive Reaktionen
- Reagiert unmittelbar auf Reize und Bedürfnisse
- Braucht wenig kognitive Ressourcen
- System 2 (langsames Denken):
- Reflektierend, analytisch, kontrolliert, bewusst
- Bei ADHS oft schwerer zu aktivieren und aufrechtzuerhalten
- Erfordert Anstrengung und Fokus
- Reguliert System 1
- Bedeutung für ADHS :
- Hyperaktivität kann als Überwiegen von System 1 verstanden werden
- Schwierigkeit, das reflektierende System 2 zu aktivieren
- Bewegungsdrang kann die Aktivierung von System 2 unterstützen (paradoxerweise)
- Externe Strukturierung kann System 2 entlasten
Mischel: Belohnungsaufschub und Selbstkontrolle
- Marshmallow-Experiment : Kinder konnten wählen zwischen sofortiger kleiner Belohnung oder späterer größerer Belohnung
- Bezug zu ADHS :
- Schwierigkeiten mit Belohnungsaufschub typisch bei ADHS
- Stärkere Orientierung an unmittelbarer Befriedigung
- Hyperaktivität kann als körperlicher Ausdruck dieser Ungeduld gesehen werden
- Unterstützungsansätze :
- Unmittelbare kleine Verstärker für angemessenes Verhalten
- Schrittweise Verlängerung von Wartezeiten
- Strategien zur Ablenkung während Wartephasen
Alternative Lernumgebungen und pädagogische Ansätze
Handwerkliches Lernen und Werken
- Grundprinzip : Lernen durch praktisches Tun und Herstellen von Produkten
- Vorteile für Kinder mit ADHS :
- Bewegung wird konstruktiv in den Lernprozess integriert
- Unmittelbares Feedback durch entstehendes Produkt
- Multisensorisches Lernen (sehen, fühlen, bewegen)
- Natürliche Strukturierung durch Arbeitsabläufe
- Entwicklung von Geduld und Ausdauer durch sichtbare Fortschritte
- Konkrete Umsetzung :
- Holzarbeiten mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden
- Textile Techniken wie Weben oder Nähen
- Papierarbeiten und Buchbinden
- Ton- und Keramikunterricht
- Bauen und Konstruieren mit verschiedenen Materialien
Schulgärten
- Grundprinzip : Verbindung von Lernen und Naturerfahrung im schulischen Gartenbauprojekt
- Vorteile für Kinder mit ADHS :
- Kombination von körperlicher Aktivität und Lernen
- Längerfristige Projekte fördern Geduld und Durchhaltevermögen
- Beruhigende Wirkung der Naturumgebung
- Erfolgserlebnisse durch Wachstum und Ernte
- Integriertes Lernen verschiedener Fächer (Biologie, Mathematik, etc.)
- Konkrete Umsetzung :
- Eigene Pflanzenbeete für Kinder oder Kleingruppen
- Altersentsprechende Verantwortungsbereiche
- Dokumentation von Wachstumsprozessen
- Gemeinsame Verarbeitung der Ernte
- Jahreszeitliche Aktivitäten und Feste
Waldpädagogik und Waldschulen
- Grundprinzip : Regelmäßiger Unterricht in Waldumgebung mit natürlichen Materialien
- Vorteile für Kinder mit ADHS :
- Natürliche Umgebung reduziert Reizüberflutung
- Bewegungsfreiheit in naturgegebenem Rahmen
- Stärkung der Tiefenwahrnehmung und Körperkoordination
- Förderung von Aufmerksamkeit für natürliche Details
- Abbau von überschüssiger Energie durch Bewegung im Gelände
- Konkrete Umsetzung :
- Regelmäßige Waldtage (1-2x pro Woche)
- Unterricht im Freien mit natürlichen Materialien
- Erkundungsaufgaben und Naturbeobachtungen
- Bauen mit Naturmaterialien
- Jahreszeitliche Projekte und Naturerfahrungen
Erlebnispädagogik
- Grundprinzip : Lernen durch herausfordernde Aktivitäten und Abenteuer in der Gruppe
- Vorteile für Kinder mit ADHS :
- Kanalisierung des Bewegungsdrangs in sinnvolle Aktivitäten
- Hoher Aufforderungscharakter durch Abenteuerfaktor
- Soziales Lernen in authentischen Situationen
- Entwicklung von Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen
- Natürliche Konsequenzen statt künstlicher Regelsysteme
- Konkrete Umsetzung :
- Kletteraktivitäten und Seilgärten
- Wasseraktivitäten wie Kanufahren
- Kooperationsaufgaben und Teamherausforderungen
- Orientierungsübungen und Geländespiele
- Übernachtungsaktionen und mehrtägige Projekte
Integration in den Schulalltag
Hybridmodelle
- Kombination von konventionellem Unterricht mit alternativen Ansätzen
- Feste Tage für projektbasiertes oder handwerkliches Lernen
- Integration von Bewegungspausen in den regulären Unterricht
- Flexible Wechsel zwischen Klassenraum und alternativen Lernorten
Praktische Umsetzungstipps
- Tägliche Bewegungsrituale zu Beginn des Unterrichts
- Lerninseln mit unterschiedlichen Arbeitshaltungen
- Stehpulte und alternative Sitzgelegenheiten
- Verantwortungsaufgaben mit Bewegungsanteilen (Botengänge, Material holen)
- Bewegte Pausen mit strukturierten Angeboten
- Rhythmisierung des Schulvormittags (Wechsel von Konzentration und Bewegung)
Implementierung alternativer Methoden
- Schrittweise Einführung neuer Elemente
- Fortbildung des pädagogischen Personals
- Einbeziehung von externen Experten (Handwerker, Gärtner, Erlebnispädagogen)
- Zusammenarbeit mit Eltern und außerschulischen Partnern
- Dokumentation der Effekte auf Lernverhalten und Wohlbefinden
Fallbeispiele und Erfolgsgeschichten
Beispiel 1: Werkstatt-Tag
Max, 10 Jahre, hat ausgeprägte ADHS-Symptome. An den wöchentlichen Werkstatt-Tagen arbeitet er konzentriert über längere Zeit an einem Holzprojekt. Die klare Struktur der Arbeitsschritte, die sichtbaren Fortschritte und die Möglichkeit, sich dabei zu bewegen, führen zu einer deutlichen Verbesserung seiner Ausdauer und Motivation.
Beispiel 2: Gartenprojekt
Lena, 9 Jahre, zeigt im Klassenzimmer starke motorische Unruhe. Im Schulgartenprojekt übernimmt sie Verantwortung für ein eigenes Beet. Die regelmäßige körperliche Aktivität und der lange Spannungsbogen vom Säen bis zur Ernte helfen ihr, ihre Energie zu kanalisieren und Geduld zu entwickeln.
Beispiel 3: Waldtage
Eine Grundschulklasse mit mehreren Kindern mit ADHS führt wöchentliche Waldtage ein. Die Lehrkräfte beobachten, dass an diesen Tagen weniger Konflikte auftreten und auch die nachfolgenden Tage im Klassenzimmer ruhiger verlaufen. Die Kinder können ihre motorische Unruhe im Wald ausleben und kehren ausgeglichener zurück.
Ressourcen für positive Hyperaktivität
- Hyperaktivität als Energiequelle verstehen und nutzen
- Bewegung als Lernunterstützer einsetzen
- Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung bewusst gestalten
- Körperliche Aktivität zur Regulation des Erregungsniveaus
- Bewegungsdrang als Ausdruck von Lernbereitschaft würdigen
Das Ziel ist nicht, Hyperaktivität zu unterdrücken, sondern sie in konstruktive Bahnen zu lenken und als wertvolle Ressource für aktives, ganzheitliches Lernen zu nutzen.
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