Sozial-emotionale Störungen im Kindesalter
Definition und diagnostische Kriterien
Sozial-emotionale Störungen im Kindesalter sind Verhaltens- und emotionale Störungen, die in der Kindheit oder Jugend beginnen. Laut ICD-10 stellen sie „in erster Linie Verstärkungen normaler Entwicklungstrends dar und weniger eigenständige, qualitativ abnorme Phänomene.“ Dies ist das diagnostische Schlüsselmerkmal für die Unterscheidung der emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit (F93) von den neurotischen Störungen im Erwachsenenalter (F40-F48).
Für die Diagnose sollten folgende Kriterien erfüllt sein:
- Die Symptome müssen wiederkehrend und übermäßig stark ausgeprägt sein
- Die Symptome müssen mindestens vier Wochen andauern
- Die Hauptsymptome müssen zu Beeinträchtigungen im sozialen Umfeld (Schule, Familie, Freunde) führen
Untergruppen sozial-emotionaler Störungen im Kindesalter
1. Emotionale Störung mit Trennungsangst (F93.0)
Betroffene Kinder:
- Sorgen sich über einen längeren Zeitraum unbegründet vor drohendem Unheil
- Weigern sich, in die Schule zu gehen („Schulphobie“)
- Leiden stark unter Trennungen von Bezugspersonen
- Fürchten sich vor Verlust oder Schädigung wichtiger Bezugspersonen
- Gehen aus Angst ungern abends allein ins Bett
- Leiden unter übermäßiger Traurigkeit bei tatsächlicher oder antizipierter Trennung
- Können körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Übelkeit bei drohenden Trennungen entwickeln
2. Phobische Störung im Kindesalter (F93.1)
Bei einer phobischen Störung im Kindesalter besteht:
- Eine übermäßige und irrationale Angst vor einem spezifischen Objekt, einer Situation oder einem Ereignis
- Intensives Unbehagen bis hin zu Panikattacken bei Konfrontation
- Vermeidungsverhalten gegenüber den angstauslösenden Situationen oder Objekten
- Einschränkung alltäglicher Aktivitäten durch die Vermeidung
- Unterscheidung zu Erwachsenenphobien: altersspezifische Ängste (z.B. vor Tieren, Dunkelheit)
3. Emotionale Störung mit sozialer Ängstlichkeit (F93.2)
Kinder mit sozialer Ängstlichkeit zeigen:
- Ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Fremden
- Soziale Besorgnis oder Angst in neuen, fremden oder sozial bedrohlichen Situationen
- Vermeidung von sozialen Kontakten und Rückzugsverhalten
- Befürchtungen, beurteilt oder abgelehnt zu werden
- Normale Bindung zu Familienmitgliedern und vertrauten Personen
- Häufig eingeschränkte soziale Kompetenzentwicklung durch fehlende Übungsmöglichkeiten
4. Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität (F93.3)
Diese Störung ist gekennzeichnet durch:
- Ein übermäßiges Ausmaß an emotionalen Störungen nach der Geburt eines jüngeren Geschwisters
- Intensive Eifersucht und negative Gefühle gegenüber dem neuen Geschwisterkind
- Deutlich gestörtes Verhalten wie Regression (z.B. wieder einnässen), Trotz oder Aggressivität
- Aufmerksamkeitsforderndes Verhalten gegenüber den Eltern
- Häufig Schlafprobleme und emotionale Dysregulation
- Unterscheidung von normaler Anpassungsreaktion durch Intensität und Dauer der Symptome
5. Sonstige emotionale Störungen (F93.8)
Darunter fallen unter anderem:
- Identitätsstörung: Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität, die über normale Entwicklungsphasen hinausgeht
- Störung mit Überängstlichkeit: Übermäßige generalisierte Ängste und Sorgen, die nicht an spezifische Situationen gebunden sind
Symptomkomplexe bei sozial-emotionalen Störungen
Häufige Albträume (F51.5)
Die betroffenen Kinder:
- Träumen vorwiegend von Angst einflößenden Situationen, Objekten oder Personen
- Wachen nachts vermehrt schreiend auf
- Sind morgens deshalb unausgeschlafen
- Sind oft erschöpft
- Klagen über Müdigkeit oder schlafen tagsüber ein
- Haben Schwierigkeiten beim Umgang mit Sorgen und Problemen, Lösungen werden nicht erkannt (Verarbeitung unterbewusst im Traum)
Körperliche Beschwerden ohne organische Grundlage
Die betroffenen Kinder:
- Klagen über Übelkeit oder Erbrechen
- Haben häufiger Kopfschmerzen
- Leiden unter Schlafstörungen
- Haben eventuell Atembeschwerden
- Können Probleme mit der Blasen- und Darmkontrolle haben
- Sind unruhig oder nervös
- Leiden unter Müdigkeit oder Erschöpfung
- Neigen zu Muskelverspannungen
Mögliche Ursachen
Die Ursachen für sozial-emotionale Störungen im Kindesalter sind multifaktoriell. Der amerikanische Psychiater Aaron Temkin Beck geht von folgenden möglichen Ursachen aus:
- Negatives Selbstbild: Kinder entwickeln negative Grundüberzeugungen über sich selbst
- Negative Interpretation: Verzerrte Wahrnehmung und Bewertung von Situationen, Objekten oder Personen
- Nihilistische Einstellung: Pessimistische Zukunftserwartungen
- Nichtbeachtung kindlicher Bedürfnisse: Mangelnde emotionale Zuwendung und Unterstützung
- Klassische Konditionierung: Ein ursprünglich neutraler Reiz löst Angst aus, weil er mit einem angstauslösenden Reiz gekoppelt wurde
Weitere häufige Einflussfaktoren sind:
- Genetische Prädisposition
- Temperamentsmerkmale (z.B. Verhaltenshemmung)
- Unsichere Bindungsmuster
- Traumatische Erfahrungen
- Ungünstige Erziehungsstile (überbehütend oder vernachlässigend)
- Familiäre Belastungen oder Konflikte
- Schulische Probleme
Mögliche Folgen
Sozial-emotionale Störungen im Kindesalter haben weitreichende Folgen für die betroffenen Kinder:
- Verschlechterung der Einzelsymptome, des allgemeinen Wohlbefindens und der sozialen Integration
- Folgeerkrankungen wie Depressionen, neurotische Störungen und manifestierte Ängste (Phobien)
- Beeinträchtigung der schulischen Leistungen und des Selbstvertrauens
- Gestörte Eltern-Kind-Beziehung
- Entwicklung von langfristigen Vermeidungsstrategien
- Eingeschränkte soziale Kompetenzentwicklung
- Erhöhtes Risiko für psychische Störungen im Erwachsenenalter
Hinweise zur Differenzierung ICD-10 vs. ICD-11
Während in der ICD-10 die emotionalen Störungen des Kindesalters unter F93 zusammengefasst sind, wurden in der ICD-11 einige Änderungen vorgenommen. Die Differenzierung zwischen Störungen des Kindes- und Erwachsenenalters wurde teilweise aufgehoben, mit stärkerem Fokus auf den Symptomen unabhängig vom Alter. Die genaue Kenntnis der aktuellen Klassifikation ist für diagnostische und therapeutische Entscheidungen relevant.
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