Tic-Störungen und Tourette
Was sind Tics und Tourette?
Tics sind plötzliche, unwillkürliche Bewegungen oder Laute, die ein Mensch nicht oder nur kurzzeitig kontrollieren kann.
Tourette-Syndrom ist eine angeborene neurologische Erkrankung, bei der sowohl Bewegungs-Tics als auch Laut-Tics über längere Zeit (mehr als ein Jahr) auftreten.
Arten von Tics
Bewegungs-Tics (motorische Tics):
- Einfache Bewegungen: Blinzeln, Zucken mit Schultern oder Kopf, Grimassen
- Komplexere Bewegungen: Berühren von Gegenständen, Hüpfen, bestimmte Bewegungsabläufe
Laut-Tics (vokale Tics):
- Einfache Laute: Räuspern, Schnüffeln, Husten, Pfeifen
- Komplexere Äußerungen: Wiederholen von Wörtern, ungewolltes Aussprechen von unangemessenen Wörtern (kommt nur bei etwa 10-15% vor)
Mögliche Ursachen
Biologische Faktoren:
- Vererbung: Tic-Störungen treten oft familiär gehäuft auf (Vererbungsrate bis zu 77%)
- Gehirnbereiche: Veränderungen in bestimmten Hirnregionen (besonders Basalganglien)
- Botenstoffe: Ungleichgewicht bei Neurotransmittern (besonders Dopamin)
Auslösende Faktoren:
- Stress und emotionale Belastung
- Müdigkeit und Erschöpfung
- Bestimmte Umgebungen (z.B. laute, unstrukturierte Situationen)
- Aufregung (sowohl positive als auch negative)
Verstärkende Faktoren:
- Aufmerksamkeit auf die Tics
- Angst vor dem Auftreten von Tics
- Unklare Strukturen und Abläufe
Wichtig zu wissen
- Tics sind nicht willentlich – sie passieren einfach
- Betroffene spüren oft einen inneren Drang vor dem Tic
- Tics können kurzzeitig unterdrückt werden, was aber anstrengend ist
- Stress verstärkt Tics, Entspannung und Konzentration verringern sie oft
- Tics kommen und gehen in Phasen (mal stärker, mal schwächer)
- Tics verändern sich häufig mit der Zeit
Auswirkungen und Schwierigkeiten
Körperliche Aspekte
- Körperliche Erschöpfung durch ständige Tic-Aktivität
- Mögliche Muskelschmerzen oder Verspannungen
- Bei starken motorischen Tics manchmal Verletzungen
- Schlafstörungen durch Tics beim Einschlafen
Emotionale und soziale Aspekte
- Scham und vermindertes Selbstwertgefühl
- Soziale Isolation durch Vermeidungsverhalten
- Frustration über mangelnde Kontrollfähigkeit
- Angst vor Bloßstellung und negativen Reaktionen
- Erhöhtes Risiko für Depressionen und Angststörungen
Kognitive Aspekte
- Konzentrationsschwierigkeiten durch Tic-Unterdrückung
- Geteilte Aufmerksamkeit (Unterricht vs. Tic-Kontrolle)
- Beeinträchtigung der schulischen Leistungen trotz normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz
Herausforderungen im Schulalltag
Für betroffene Schüler
- Dauerhafte Anstrengung durch Unterdrücken von Tics
- Schnellere Ermüdung und Konzentrationsprobleme
- Angst vor negativen Reaktionen der Mitschüler
- Probleme beim Schreiben durch motorische Tics
- Oft begleitet von ADHS (50-60%) oder Zwangsverhalten (30-50%)
Für Mitschüler und Lehrkräfte
- Tics können den Unterrichtsfluss stören
- Unsicherheit im Umgang mit den Symptomen
- Fehlinterpretation als absichtliches Verhalten
- Schwierigkeit zu unterscheiden: Was ist Tic und was nicht?
Besondere schulische Situationen und Schwierigkeiten
- Klausuren/Tests: Erhöhter Stress → Verstärkung der Tics
- Vorträge/Präsentationen: Soziale Ängste und Aufmerksamkeit verstärken Tics
- Gruppenarbeiten: Soziale Dynamik kann belastend sein
- Sportunterricht: Motorische Tics können Bewegungsabläufe stören
- Ruhephasen: Vokale Tics fallen besonders auf, wenn es still sein soll
- Exkursionen/Ausflüge: Ungewohnte Umgebungen können Stress verursachen
Handlungsmöglichkeiten für die Schulbegleitung
Grundhaltung
- Tics ignorieren statt aufmerksam machen oder ermahnen
- Den ganzen Menschen sehen, nicht nur die Tics
- Offener Umgang mit dem Thema (nach Absprache mit Betroffenen)
- Verständnis fördern im Klassenverband ohne Bloßstellung
Direkte Unterstützung für betroffene Schüler
- Rückzugsmöglichkeiten schaffen: Gemeinsam einen „sicheren Ort“ definieren
- Diskretes Signalsystem entwickeln für kritische Situationen
- Puffer zwischen Mitschülern sein, wenn nötig
- Positive Verstärkung für Stärken und Erfolge geben
- Stressreduktion durch klare Strukturen und Vorhersehbarkeit
- Selbstmanagement unterstützen: Betroffene in eigenen Strategien fördern
Klassenklima und soziale Integration
- Aufklärungsarbeit in der Klasse (nur mit Zustimmung des betroffenen Kindes)
- Gemeinschaftsbildende Aktivitäten fördern, die Stärken des Kindes einbeziehen
- Bei Mobbing sofort und konsequent intervenieren
- Peer-Mentoringkonzepte unterstützen
Praktische Hilfen im Unterricht
- Sitzplatz anpassen : am Rand oder in der Nähe der Tür
- Auszeiten ermöglichen : kurzes Verlassen des Raumes bei starkem Tic-Drang
- Bewegungspausen einbauen: helfen allen Schülern
- Stress reduzieren : klare Strukturen, Vorhersehbarkeit
- Alternative Aufgabenformate anbieten: z.B. mündlich statt schriftlich
- Mehr Zeit bei Klassenarbeiten gewähren
Bei Prüfungssituationen
- Separater Raum bei störenden Tics
- Zeitverlängerung
- Computer statt handschriftlicher Arbeiten
- Pausen ermöglichen
Zusammenarbeit im Umfeld
- Regelmäßiger Austausch mit Lehrkräften und Eltern
- Gemeinsame Strategieentwicklung mit Therapeuten
- Klare Absprachen und einheitliches Vorgehen aller Beteiligten
- Dokumentation von erfolgreichen Strategien und problematischen Situationen
Fallbeispiele aus dem Schulalltag
Beispiel 1: Leon (10 Jahre)
Leon hat motorische Tics wie Schulterzucken und gelegentliches Kopfschütteln. In Stresssituationen verstärken sich seine Tics.
Herausforderung:
Bei Klassenarbeiten zuckt Leon so stark mit dem Kopf, dass er kaum schreiben kann. Die anderen Kinder bemerken seine Tics und beginnen ihn nachzuahmen.
Hilfreiche Maßnahmen:
- Fester Sitzplatz am Rand, von wo er kurz aufstehen kann
- Vereinbartes Zeichen für „Auszeit nehmen“
- Klassenarbeit in separatem Raum mit zusätzlicher Zeit
- Gespräch mit der Klasse (nach Leons Zustimmung) über Tics, vergleichbar mit Schluckauf
- Bewegungspausen für die ganze Klasse vor Prüfungssituationen
Ergebnis:
Die Mitschüler verstehen besser, dass Leon seine Tics nicht kontrollieren kann. Die Möglichkeit, Pausen zu nehmen, reduziert seinen Stress und damit auch die Tic-Intensität.
Beispiel 2: Mia (14 Jahre)
Mia hat vokale Tics (Räuspern, gelegentliche Wortwiederholungen) und einige motorische Tics. Sie schämt sich sehr für ihre Tics.
Herausforderung:
Mia soll einen Vortrag vor der Klasse halten. Sie hat große Angst, dass ihre vokalen Tics während des Vortrags auftreten und die Klasse lacht.
Hilfreiche Maßnahmen:
- Alternative Präsentationsform anbieten (z.B. voraufgezeichnetes Video)
- Vortragsübung in kleinerem, vertrautem Rahmen
- Mit Mias Zustimmung: kurze Information an die Klasse, dass Mia manchmal Laute macht, die sie nicht kontrollieren kann
- Sitznachbarn als „Unterstützer“ einbeziehen
- Bei Hänseleien sofort eingreifen
Ergebnis:
Mia entscheidet sich für einen Live-Vortrag, nachdem sie vorher mit zwei Freundinnen und der Schulbegleitung geübt hat. Während des Vortrags treten ihre Tics auf, aber die Klasse reagiert nicht negativ. Dies stärkt ihr Selbstvertrauen erheblich.
Beispiel 3: Jonas (12 Jahre)
Jonas hat komplexe motorische Tics, die Berührungen einschließen. Er muss manchmal Gegenstände oder in seltenen Fällen auch Personen berühren.
Herausforderung:
In engen Klassenraumsituationen berührt Jonas manchmal ungewollt Mitschüler, was zu Konflikten führt.
Hilfreiche Maßnahmen:
- Sitzplatz mit mehr Abstand zu anderen
- Klar kommunizierte „Berührungsregeln“ für die ganze Klasse einführen
- Alternative „Berührungsobjekte“ (z.B. spezielles Armband oder Stressball) anbieten
- Aufklärungsgespräch mit Mitschülern (mit Jonas‘ Einwilligung)
- Spezielle Signalwörter vereinbaren für kritische Situationen
Ergebnis:
Jonas kann besser mit seinen Berührungs-Tics umgehen, indem er lernt, sie auf seine persönlichen Gegenstände umzuleiten. Die Klasse versteht sein Verhalten besser, und Konflikte nehmen ab.
Was hilft betroffenen Kindern und Jugendlichen?
Behandlungsmöglichkeiten
- Verhaltenstherapie : Erlernen von Techniken zur Tic-Kontrolle
- Entspannungsmethoden : Atemübungen, progressive Muskelentspannung
- Stressreduktion : Sport, Bewegung, ausreichend Schlaf
- Medikamente : nur bei starker Beeinträchtigung
Unterstützung im sozialen Umfeld
- Offener Umgang mit dem Thema
- Akzeptanz der Symptome
- Fokus auf Stärken und Fähigkeiten
- Regelmäßiger Austausch zwischen Eltern und Schule
Praktischer Umgang mit Tics im Unterricht
Hilfreich ist:
- Ruhe bewahren – Tics nicht kommentieren
- Ablenkung bieten bei zunehmenden Tics
- Kurze Pausen ermöglichen
- Diskretion wahren – nicht vor der Klasse thematisieren
- Unterstützung anbieten , ohne zu bevormunden
Vermeiden Sie:
- Direktes Ansprechen auf Tics
- Aufforderungen, die Tics zu unterlassen
- Besondere Aufmerksamkeit bei auftretenden Tics
- Ungleichbehandlung oder übermäßige Schonung
Abgrenzung zu Zwangsstörungen
Tic-Störungen werden manchmal mit Zwangsstörungen verwechselt oder können mit ihnen gemeinsam auftreten:
Tic-Störungen:
- Unwillkürliche Bewegungen oder Lautäußerungen
- Dienen nicht dazu, Angst zu reduzieren
- Werden als körperlicher Drang erlebt
- Bringen kurzzeitige Erleichterung nach Ausführung
Zwangsstörungen:
- Wiederkehrende Gedanken (Zwangsgedanken) und/oder Handlungen (Zwangshandlungen)
- Dienen zur Angstreduktion oder zur Abwehr befürchteter Katastrophen
- Werden als gedanklicher Zwang erlebt
- Führen zu ritualisierten Handlungsabläufen
Gemeinsamkeiten und Unterschiede:
- Beide können im Schulalltag stark belastend sein
- Beides kann zu sozialem Rückzug führen
- Zwangshandlungen wirken oft zielgerichteter als Tics
- Bei Tics steht der körperliche Drang im Vordergrund, bei Zwängen die Angstreduzierung
- Häufig treten beide Störungsbilder gemeinsam auf (30-50% der Tourette-Patienten haben auch Zwänge)
Ansprechpartner und Ressourcen
- Schulpsychologe/Beratungslehrer der Schule
- Kinder- und Jugendpsychiater
- Selbsthilfegruppen:Tourette-Gesellschaft Deutschland e.V. (www.tourette-gesellschaft.de)
- Interessenverband Tic & Tourette Syndrom (www.iv-ts.de)
Merksätze für den Schulalltag
- Tics sind nicht kontrollierbar – wie Niesen oder Schluckauf
- Jedes Kind mit Tics ist anders – individueller Umgang ist wichtig
- Tic-Unterdrückung ist anstrengend – wie lange den Atem anhalten
- Akzeptanz hilft mehr als Intervention
- Zusammenarbeit mit Familie und Therapeuten ist wertvoll
Disclaimer
Dieses Handout bietet praktische Orientierung für den Schulalltag mit Tic-Störungen und Tourette-Syndrom. Es ersetzt keine fachliche Beratung oder Diagnose.
„`
Kommentare
Tic-Störungen und Tourette — Keine Kommentare
HTML tags allowed in your comment: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>