Kritische Betrachtung der Applied Behavior Analysis (ABA) bei Autismus
Kritische Betrachtung der Applied Behavior Analysis (ABA) bei Autismus
Einführung
Applied Behavior Analysis (ABA), zu Deutsch „Angewandte Verhaltensanalyse“, ist eine der am häufigsten eingesetzten und gleichzeitig kontroversesten Interventionsmethoden im Zusammenhang mit Autismus. Während sie von manchen Institutionen und Fachleuten als „evidenzbasierte Therapie“ gepriesen wird, gibt es zunehmend Kritik – insbesondere von autistischen Menschen selbst, aber auch von Wissenschaftlern, Ethikern und Fachleuten im Bereich der psychischen Gesundheit.
Dieses Handout bietet eine kritische Betrachtung von ABA aus verschiedenen Perspektiven, mit besonderem Fokus auf die Stimmen der autistischen Community und neuere ethische und wissenschaftliche Erkenntnisse.
Historischer Hintergrund der ABA
Ursprünge und Entwicklung
- Gründung: ABA wurde in den 1960er Jahren von Dr. O. Ivar Lovaas an der UCLA entwickelt
- Ursprüngliche Ziele: „Normalisierung“ autistischer Kinder durch Verhaltensmodifikation
- Frühe Methoden: Beinhalteten aversive (bestrafende) Techniken wie elektrische Schocks, Anschreien und körperliche Bestrafungen
- Lovaas‘ eigene Worte (1974): „Du beginnst damit, wie mit einer Person zu sprechen, aber wenn das nicht funktioniert, behandelst du sie wie ein Tier.“
- Parallele Anwendung: Lovaas entwickelte gleichzeitig die „Feminine Boy Project“ – ein Programm zur Konversion vermeintlich „femininer“ Jungen, das als Vorläufer moderner Konversionstherapien gilt
Theoretische Grundlagen
- Basiert auf behavioristischen Lerntheorien (operante Konditionierung)
- Verhaltensänderung durch positive Verstärkung (Belohnungen) und negative Konsequenzen
- Fokus auf beobachtbares Verhalten, weniger auf innere Zustände oder Motivation
- Ziel ist die Reduktion „unerwünschter“ Verhaltensweisen und Förderung „normaler“ Verhaltensweisen
Kritische Perspektiven auf ABA
Kritik aus der autistischen Community
Die deutlichste Kritik kommt von autistischen Menschen selbst, besonders von jenen, die in ihrer Kindheit ABA-Interventionen erhalten haben:
- Traumatisierende Erfahrungen: Viele autistische Erwachsene berichten von ABA als traumatisierend und schädlich für ihre Identitätsentwicklung
- PTBS-Symptome: Studien zeigen ein erhöhtes Risiko für Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung bei autistischen Erwachsenen, die ABA erhielten
- Unterdrückung statt Unterstützung: ABA wird kritisiert, natürliche autistische Verhaltensweisen zu unterdrücken, statt Verständnis und Akzeptanz zu fördern
- Stimming-Verbot: Die systematische Unterdrückung von selbstregulierenden Verhaltensweisen (Stimming) wird als besonders schädlich angesehen
Zitat einer autistischen Person:
„ABA hat mich gelehrt, dass die Art, wie ich natürlicherweise existiere, falsch ist. Ich lernte, meine Bedürfnisse zu ignorieren, um anderen zu gefallen. Ich brauche jetzt Therapie, um die Schäden der ‚Therapie‘ zu heilen, die ich als Kind erhielt.“
Ethische Bedenken
Aus ethischer Perspektive werden mehrere grundlegende Probleme identifiziert:
- Fehlende informierte Zustimmung: Kinder können den Zweck und die langfristigen Auswirkungen nicht verstehen und somit keine informierte Zustimmung geben
- Konformitätsdruck: Fokus auf äußere Anpassung statt auf inneres Wohlbefinden und Selbstbestimmung
- Manipulation: Verwendung von Belohnungs- und Bestrafungssystemen zur Verhaltenssteuerung
- Machtgefälle: Schafft eine unausgewogene Machtdynamik zwischen Kind und Therapeut
- Autismus-Pathologisierung: Grundannahme, dass autistische Verhaltensweisen „korrigiert“ werden müssen
Wissenschaftliche Kritikpunkte
Auch aus wissenschaftlicher Perspektive gibt es zunehmend Kritik:
- Problematische Ergebnismessung: „Erfolg“ wird oft an der Reduktion autistischer Verhaltensweisen gemessen, nicht am Wohlbefinden oder der Lebensqualität
- Methodische Mängel: Viele Studien zur Wirksamkeit haben erhebliche methodische Schwächen
- Fehlende Langzeitstudien: Es gibt kaum qualitativ hochwertige Untersuchungen zu langfristigen Auswirkungen
- Publikationsbias: Tendenz, nur positive Ergebnisse zu veröffentlichen
- Interessenkonflikte: Viele Studien werden von ABA-Anbietern selbst durchgeführt oder finanziert
Spezifische Kritikpunkte an ABA-Praktiken
Problematische Zielsetzungen
- „Augenkontakt-Training“: Erzwungener Augenkontakt kann für autistische Menschen extrem unangenehm sein und die soziale Verarbeitung beeinträchtigen
- Unterdrückung von Stimming: Selbstregulatorische Verhaltensweisen werden unterdrückt, obwohl sie wichtige Funktionen bei der Regulation erfüllen
- „Quiet Hands“: Die Unterdrückung von Handmanierismen oder Händeflattern (ein weitverbreitetes ABA-Ziel) beraubt autistische Menschen wichtiger Selbstregulationsmechanismen
- „Normales Erscheinungsbild“: Fokus auf das Aussehen von Normalität statt auf tatsächliches Wohlbefinden und Funktionieren
Problematische Methoden
- Extinction Burst: ABA nutzt oft „Extinction“ (systematisches Ignorieren), was zu verstärktem Verhalten führen kann, bevor es abnimmt – dies kann für Kinder extrem verwirrend und belastend sein
- Übermäßige Intensität: Empfohlene 40+ Stunden wöchentlich für kleine Kinder lassen kaum Zeit für Spiel und normale Entwicklung
- Willkürliche Verstärker: Oft werden Belohnungen eingesetzt, die keinen natürlichen Zusammenhang mit dem gewünschten Verhalten haben
- Compliance-Training: Fokus auf Folgsamkeit kann Kindern die Fähigkeit nehmen, „Nein“ zu sagen und eigene Grenzen zu setzen
Fehlende Berücksichtigung autistischer Perspektiven
- „Eisbergprinzip“: ABA fokussiert sich oft nur auf sichtbares Verhalten, ignoriert aber zugrundeliegende Faktoren wie sensorische Überlastung, Angstzustände oder Kommunikationsbedürfnisse
- Vernachlässigung der „Warum“-Frage: Verhaltensweisen werden oft unterdrückt, ohne ihre Funktion zu verstehen
- Fehlende Berücksichtigung neurologischer Unterschiede: Ignoriert fundamentale neurologische Unterschiede zugunsten von Verhaltensanpassung
Alternative Ansätze
Als Reaktion auf die Kritik an ABA haben sich verschiedene alternative Ansätze entwickelt, die stärker auf Respekt, Neurodiversität und Selbstbestimmung aufbauen:
Neurodiversitätsaffirmative Ansätze
- Respekt für autistische Neurologie: Anerkennung von Autismus als natürliche Variation menschlicher Neurologie, nicht als Defizit
- Fokus auf Wohlbefinden: Priorität liegt auf subjektivem Wohlbefinden und Lebensqualität, nicht auf „neurotypischem Erscheinungsbild“
- Strengerer Konsens: Zustimmung und Autonomie werden priorisiert
- Co-Regulation statt Verhaltensmodifikation: Unterstützung bei der Emotionsregulation durch Beziehung statt durch Kontingenzmanagement
Kernfragen zur Evaluierung von Interventionen
Um Interventionen für autistische Menschen kritisch zu bewerten, sollten folgende Fragen gestellt werden:
- Respektiert die Intervention die autistische Neurologie als valide Form des Menschseins?
- Wird auf Zwang, Manipulation oder Compliance-Training verzichtet?
- Berücksichtigt der Ansatz die Perspektive autistischer Menschen?
- Werden autistische Selbstregulationsstrategien respektiert?
- Fokussiert sich die Intervention auf echte Lebensqualität statt nur auf „normales Erscheinungsbild“?
- Berücksichtigt der Ansatz Trauma und psychische Gesundheit?
- Gibt es Evidenz für langfristige positive Outcomes, die über Verhaltensanpassung hinausgehen?
- Werden die Autonomie und die Grenzen des Kindes respektiert?
Warum traditionelle ABA kritisch zu betrachten ist
Zusammenfassend lässt sich die Kritik an traditioneller ABA wie folgt darstellen:
Problematische Grundannahmen
- Autismus wird als zu korrigierendes Problem statt als neurologische Variation betrachtet
- Normalität wird als Ziel gesetzt, nicht Wohlbefinden oder Lebensqualität
- Erfolg wird an Verhaltensanpassung gemessen, nicht an innerem Wohlbefinden
Ethische Probleme
- Unterdrückung natürlicher autistischer Ausdrucksformen und Selbstregulationsmechanismen
- Förderung von Compliance/Folgsamkeit auf Kosten von Selbstbestimmung
- Intensive Intervention in sensiblen Entwicklungsphasen
- Vernachlässigung autistischer Erfahrungsberichte über Traumatisierung
Medizinisch-wissenschaftliche Bedenken
- Evidenz fokussiert auf kurzfristige Verhaltensänderungen, nicht auf langfristiges Wohlbefinden
- Keine ausreichende Untersuchung möglicher Schäden
- Häufige methodische Mängel in Studien
- Darstellung kurzzeitiger Compliance als „Erfolg“, ohne Berücksichtigung langfristiger Folgen
Fazit: Ein Paradigmenwechsel ist erforderlich
Die kritische Betrachtung von ABA führt zu der Erkenntnis, dass ein grundlegender Paradigmenwechsel in der Unterstützung autistischer Menschen notwendig ist:
- Von der Defizitorientierung zur Akzeptanz neurologischer Vielfalt
- Von der Verhaltensmodifikation zur Stärkung intrinsischer Motivation
- Von der Unterdrückung autistischer Ausdrucksformen zur Schaffung autismusfreundlicher Umgebungen
- Von der Expertenzentrierung zur autistischen Selbstbestimmung
Eine wirklich ethische und wirksame Unterstützung autistischer Menschen muss ihre Perspektiven, Rechte und ihr Wohlbefinden in den Mittelpunkt stellen. Nur so kann eine Zukunft geschaffen werden, in der autistische Menschen ihr volles Potenzial entfalten können – nicht durch Anpassung an die neurotypische Norm, sondern durch Unterstützung ihrer einzigartigen neurologischen Identität.
Hinweis: Dieses Handout stellt bewusst kritische Perspektiven auf ABA dar, um eine fundierte Diskussion zu ermöglichen. Es ist wichtig, dass Fachleute, Eltern und autistische Menschen selbst an dieser Diskussion teilnehmen und gemeinsam ethische, respektvolle Unterstützungsformen entwickeln.
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